Haltung entscheidet

Die meisten meiner Newsletter beschäftigen sich mit der Infragestellung des Status Quos, der Notwenigkeit zur Veränderung - gesellschaftlich wie auch unternehmerisch - sowie der Fragestellung, wie diese gelingen kann. 

Wie kann es gelingen, eine Situation, einen Prozess oder ein Verhalten zu verändern, welche wir für unumstößlich halten? In der Einleitung zum Buch ‚Haltung entscheidet‘ beschreibt Martin Permantier die Situation vom Herbst 1989 in Berlin. Fast alle Deutschen hatten die Mauer als Realität akzeptiert, reisende Westdeutsche hatten sich an das autoritäre Verhalten der Grenzbeamten gewöhnt. Die Meisten mochten die Mauer nicht, aber die wenigstens haben sich vorstellen können, dass sie jemals wieder verschwinden wird. Dann kam der 9. November und als hätten wir über Nacht beschlossen, nicht mehr an die Mauer zu glauben, war es möglich ihre Existenz zu beenden. Neue Verhaltensmuster von Bürgern waren möglich, dadurch dass sie die Mauer nicht mehr als gegeben hingenommen haben. Sie gingen oder fuhren einfach auf die Mauer zu. Grenzbeamte waren verunsichert, sie spürten den Wandel in der Haltung der Menschen und konnten sich nicht mehr an ihrer alten Rolle des autoritären Grenzbeamten festhalten. So war es möglich, dass die Mauer fiel.
Die Mauer war eine physische Realität. Übertragen auf unseren Unternehmensalltag sind die Realitäten oft nur auf Basis von Vereinbarungen und geübten Praktiken existent. Wenn also eine Mauer aus Beton fallen kann, weil die Zeit reif ist, dann können auch als unumstößlich erscheinende Vereinbarungen, Praktiken und Erwartungen in unserem Unternehmensumfeld fallen, um für Neues Platz zu machen...

Ein Beispiel für eine solche unumstößlich erscheinende Praktik ist die Individualzielvereinbarung verbunden mit einem individuellen Bonus oder einer Gehaltserhöhung – über die Absurdität dieser Praktik habe ich in meinem letzten Newsletter berichtet. Eine andere scheinbar fest zementierte Gegebenheit ist die Existenz von Teamleitern und Abteilungsleitern mit Personalverantwortung, die sich um ihre Mitarbeiter kümmern, aber auch dafür Sorge tragen (beziehungsweise kontrollieren), dass jeder Mitarbeiter seinen Beitrag zum Unternehmenserfolg liefert. Eine dritte sehr verbreitete Erwartung ist, dass Führungskräfte das richtige Ziel und den Weg dorthin kennen, stets einen Plan und Antworten auf alle Fragen haben.

Wagen wir mal das Gedankenexperiment, dass diese Realitäten veraltet sind. Welche Grundhaltungen müssten wir in uns (wir als Führungskräfte sowie wir als Mitarbeiter) finden, damit neue Muster der Zusammenarbeit entstehen können? (Analog dem Beispiel des Mauerfalls, bei dem sich die Haltung ‚die Mauer ist da und sie wird es auch immer sein‘ verändert hat zu ‚warum lassen wir diese Mauer überhaupt zu – wie wäre es, wenn sie gar nicht da wäre?‘.)

Aus meiner Sicht wäre das für Führungskräfte ein Paradigmenwechsel von:

Vertrauen statt Kontrolle
Führungskräfte müssten die Bereitschaft spüren, von den meisten etablierten Kontrollmechanismen wie zum Beispiel Zeiterfassung und Zielerreichung abzulassen. Auch Entscheidungen zu Anschaffungen, Lieferantenauswahl, Kommunikationskonzepte würden zumindest in Teilen an die Mitarbeiterteams delegiert werden. Die Liste lässt sich natürlich beliebig verlängern, aber bei dem Thema Entscheidungen ist es sehr empfehlenswert das ganze schrittweise anzugehen, um sich selbst aber auch die Mitarbeiter nicht zu überfordern.

Raum und Sicherheit geben statt Bestrafungen
Das Thema Raum geben habe ich mit der Delegation von Entscheidungen schon angesprochen. Der Aspekt Sicherheit kommt direkt im Anschluss ins Spiel. Nehmen wir mal an, das Team oder ein einzelner Mitarbeiter hat eine Entscheidung getroffen und es zeichnet sich im Nachhinein als suboptimale Entscheidung ab. Dann ist der kritische Moment erreicht, in dem die Führungskraft Sicherheit geben muss, anstatt zu bestrafen (und sei es nur durch einen negativen Kommentar). Es stellt sich die Frage: wäre ich als Führungskraft dazu bereit?

Ergebnisoffenheit statt der Haltung: „Ich weiß es eh am Besten.“
Hier geht es darum einen echten Gestaltungsraum für die Mitarbeiter zu schaffen. Die Führungskraft muss sich ernsthaft hinterfragen, ob sie schon ein Wunschergebnis hat oder wirklich ergebnisoffen ist. Das Potenzial der Mitarbeiterschaft kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Mitarbeiter zu einer Problemstellung sowohl die Lösung eigenständig ausarbeiten können als auch den Weg dorthin beschreiten dürfen. 

Sog-Prinzip statt überstülpen von Rollen und Aufgaben
Mit dem Aspekt des Vertrauens sowie dem Sicherheitsbedürfnis eines jeden Menschen macht nur das Sog- beziehungsweise Pull-Prinzip Sinn. Im Pull-Prinzip suchen sich die Mitarbeiter oder Teams ihren Handlungsbereich nach Möglichkeit entsprechend ihrer Neigungen und Fähigkeiten aus und nehmen sich nur so viel Arbeit, wie sie glauben leisten zu können. Natürlich passiert der Abgleich zu Neigungen und Fähigkeiten bereits bei der Einstellung eines Mitarbeiters, allerdings ist in dem Sog-Prinzip der Veränderungsgedanke impliziert: Mitarbeiter entwickeln neue Passionen sowie neue Fähigkeiten und ziehen sich dann die Arbeit, für die sie sich berufen fühlen. Die Grundhaltung der Führungskraft, das zu erlauben, steht im krassen Gegensatz zum Push-Prinzip, dass seine Wurzeln im ‚Command und Control‘ Ansatz nach Frederick Winslow Taylor hat.

Bisher habe ich viel von der Führungskraft gefordert, was die notwendigen Grundhaltungen zur Ermöglichung neuer Realitäten angeht. Aber damit Neues entstehen kann, sind auch die Mitarbeiter gefragt. Sie sind meines Erachtens ein ebenso wichtiges Glied im Gesamtbild.

Bei den Mitarbeitern sollten wir folgende Paradigmenwechsel finden können:

  • Die Bereitschaft und Fähigkeit sich selbst zu organisieren statt der Haltung: „Chef, sag mir einfach was ich tun soll und bis wann.“
  • Der Wille sich selbst zu entwickeln, statt darauf zu warten, dass andere das für mich tun.
  • Das Bedürfnis dem Team zu dienen, statt meinem eigenen Bonus hinterherzurennen (ach, den gibt es ja dann nicht mehr...).
  • Den Mut Verantwortung zu übernehmen für Entscheidungen, die ich selbst treffen durfte, statt bei der kleinsten Unsicherheit das Thema wieder zurück an den Chef zu delegieren.


Wer das jetzt liest, sollte ehrlich mit sich und seinen Mitarbeitern sein. Resonieren diese Haltungen mit mir als Führungskraft? Gibt es zumindest einige Mitarbeiter, die die aufgeführten Haltungen verkörpern und das Potenzial haben, bei einer möglichen Transformation die ersten zu sein, die einen anderen Arbeitsmodus ausprobieren, und später andere mitziehen?

Wenn diese Antworten mit ‚nein‘ ausfallen, dann ist die Organisation oder der betrachtete Teil der Organisation noch nicht bereit für eine Veränderung. Um bei dem Beispiel mit der Berliner Mauer zu bleiben: dann haben wir (die Organisation) noch nicht November 1989... Denn um neue Realitäten schaffen zu können, müssen die aufgeführten Haltungen zumindest in großen Teilen vorhanden sein.

Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch – Hier können Sie ihn abonnieren


Lese- und Videotipps:


Andrea SchmittInnovationstrainerinAm Mittelpfad 24a65520 Bad Camberg+49 64 34-905 997+49 175 5196446
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