Wir kennen sie alle, diese Situationen, in den eine innere Stimme sagt: „Das kannst Du so nicht stehen lassen, da musst Du intervenieren.“ Aber etwas hält uns davon ab einzugreifen und Zivilcourage zu zeigen. Bei mir ist es etwa fifty-fifty: in 50 % der Fälle bekenne ich Farbe, stehe für Gerechtigkeit oder das „Richtige“ ein, und in 50 % der Fälle sehe auch ich weg. Woran liegt das, dass wir unserer inneren Stimme, die uns sagt, was zu tun ist, in einigen Fällen nicht nachgehen?
Schon klar, es kann unangenehm werden, jemanden auf etwas Unrechtes hinzuweisen. Er oder sie könnte uns anpöbeln oder gar angreifen. Umstehende könnten über uns denken: „Was mischt die sich da ein?“ Zu erkennen, dass andere uns nicht zur Seite springen, verunsichert uns vielleicht und macht die Situation noch unangenehmer, denn man will ja nicht auffallen. Manchmal hat das Einschreiten auch im Nachgang negative Folgen für die Person, die Zivilcourage zeigt. Nämlich wenn es ein Abhängigkeitsverhältnis gibt. Man stelle sich nur vor, man gerät in eine Situation, in der man die Chefin oder den Lehrer darauf hinweist, dass sie bzw. er sich gerade diskriminierend verhalten hat. Hier ist schon eine Menge Mut von Nöten.
Eine kleine Anekdote aus meinem Selbsterfahrungskurs im Rahmen meiner Coaching-Ausbildung: In diesem 4-tägigen Seminar beobachtete ich als Teilnehmerin am 2. Tag, dass eine Person des Trainerteams unprofessionell und manipulierend agierte. Ich sprach dieses Verhalten umgehend offen an und kritisierte es vor allen anderen 15 Teilnehmer:innen. Mir ging es darum, die betroffene junge Kollegin zu schützen und nicht allein zu lassen. Ein kleiner Teil der Teilnehmer:innen schätzte das Verhalten des Trainers ebenfalls als unkorrekt und nicht tragbar ein und artikulierte das zeitverzögert ebenfalls offen vor allen. Ich war sehr irritiert darüber, dass nur eine Minderheit der systemisch ausgebildeten Menschen im Raum Zivilcourage zeigte.
Tatsächlich belegen Studien, dass 60 bis 100 % der Befragten von sich behaupten, anderen zur Seite zu springen, wenn diese Unrecht erfahren. Allerdings belegen Beobachtungen, dass weniger als 30 % der Menschen bereit sind, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen und Zivilcourage leisten.
Die Behandlung, die ich nach diesem Vorfall innerhalb meines Selbsterfahrungskurses durch das Trainerpaar erhielt, war für mich sehr unangenehm. Die Trainer:innen waren nicht in der Lage, einen Fehler auf ihrer Seite zuzugeben, und verteilten Sticheleien in meine Richtung über die folgenden zwei Seminartage hinweg.
Seit diesem eigenen sehr kleinen Erlebnis ist meine Hochachtung vor Menschen, die Zivilcourage vor Stärkeren oder Mächtigeren zeigen und damit ihre körperliche Unversehrtheit riskieren, ins fast Unermessliche gestiegen.
Zivilcourage ist vielleicht ein abstraktes Wort (es bedeutet Bürger-Mut), aber sich öffentlich für andere einzusetzen ist sehr alltagsnah. Es beginnt im Kleinen mit dem Ansprechen von unfairem Verhalten und endet mit öffentlichem Widerstand gegen totalitäre Systeme, der so oft mit dem Leben bezahlt wurde und noch immer wird.
Vielleicht können wir uns vornehmen, Zivilcourage im Kleinen zu üben, z. B. indem wir jede Art von Diskriminierung, Mobbing, rassistischen Übergriffen oder Ungerechtigkeiten, die wir in Gruppen erleben, nicht unkommentiert lassen.
Denn jeder von uns hat die Macht, die Welt ein bisschen besser zu machen: sei es im Privaten, im Verein, in der Kneipe, auf der Straße, im Unternehmen oder in der Gesellschaft.
Fazit: Ich möchte hier motivieren, wann immer möglich Zivilcourage zu zeigen, denn Hinschauen und sich verantwortlich fühlen macht immer einen Unterschied! Gleichzeitig möchte ich, gespeist durch meine eigene Erfahrung, anerkennen, dass sich der Einsatz für Andere sogar im Kleinen sehr unbequem anfühlen kann.
Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint alle drei bis vier Wochen. Hier können Sie ihn abonnieren