Wieviel Nähe verträgt ein Team?

Frederic Laloux wünscht sich ‚Ganzheit‘ am Arbeitsplatz, die großen Tech-Firmen wie Google betreiben für ihre Mitarbeiter gar einen Freizeitpark auf dem Firmen-Campus und Taraneh Taheri schreibt in der Neuen Narrative, ein Team sollte sich niemals als Familie bezeichnen. Ja was denn nun? Ist Nähe oder Distanz am Arbeitsplatz wichtig und richtig? Wie viele Freizeitaktivitäten sollten Kolleginnen und Kollegen miteinander unternehmen?

Jetzt mal ganz von vorne…

Frederic Laloux regt in seinem Buch ‚Reinventing Organizations‘ dazu an, unsere Business-Maske fallen zu lassen. Anstatt uns zu jeder Zeit professionell, entschieden und stark zu zeigen, empfiehlt er, eine Kultur der Sicherheit zu erzeugen, in der Mitarbeitende sich in ihrer Ganzheit zeigen können: also verletzlich, auch mal schwach oder unentschieden, kurzum menschlich. Laloux sieht in dieser Kultur die Chance, dass Mitarbeitende in eine echte Verbindung untereinander gehen. Ihr EGO, welches vor allem aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus zum Eigenschutz eingesetzt wird und als Konsequenz zur Trennung führt, könne somit zurückgedrängt werden. Für Laloux wären dann die Voraussetzungen gegeben, als Organisation und Gemeinschaft zu besseren wertstiftenden Ergebnissen zu kommen. 

Lalouxs Wunsch nach ‚Ganzheit‘ wurde in der Corona-Zeit und dem damit verbundenen Arbeiten im Homeoffice aus meiner Erfahrung heraus ein Stück Wirklichkeit. Wir sahen die Wohnzimmer von unseren Kollegen und Kolleginnen, wir lernten ihre Babys und Haustiere kennen. Das hat uns als Menschen ein ganzes Stück näher zusammengebracht. Mitarbeitende mussten Nähe zulassen und haben sich dadurch verletzlicher gezeigt. Und mir scheint, dass das in der Corona-Zeit auch von niemandem ausgenutzt wurde und sich die Kollegenschaft trotzdem sicher fühlen konnte. Wie habt Ihr das erlebt? 

Jetzt wieder zurück im Büro, stellt sich die Frage, wieviel Nähe ist gut und richtig für das jeweilige Team?

Wir kennen es von den großen Tech-Firmen oder – falls wir es nicht persönlich erlebt haben – lesen wir immer wieder davon: Teammitglieder sollen sich in der Firma wie zuhause fühlen, es gibt Happiness Manager:innen, Sportmöglichkeiten, Duschen im Bürogebäude, After-Work-Partys. Kurz gesagt: gemeinsame Freizeitevents der vielfältigsten Art. Das kann man als Mitarbeiterin wie auch Beobachter von außen gut finden oder aber misstrauisch werden und sich fragen: „Was will der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin damit erreichen?“

Einen kompletten Freizeit-Campus rund ums Unternehmen zu errichten, wie zum Beispiel bei Google, ist sicherlich das eine Extremum. Das andere Extremum ist die alte Business Welt, in der die Menschen morgens pünktlich um 9 Uhr ins Büro-Gebäude kommen, gut geschützt mit ihrer „Business-Maske“ vielleicht im Anzug bzw. Kostüm oder in anderen Berufen in der jeweiligen Uniform. In dieser alten Welt hatten wir (die Arbeitnehmer:innen) gelernt, uns auf die Arbeit zu konzentrieren und unser tieferes ICH am Werkstor abzugeben. Es war sicherer, sich mit der „Business-Maske“ zu schützen und auf sein EGO zu vertrauen, anstatt sich verletzlich zu zeigen und sein tieferes Wesen mit seinen Hoffnungen und Wünschen zu zeigen.

Im Umgang mit sehr unterschiedlichen Unternehmen nehme ich einen starken Wunsch nach Transparenz und Offenheit wahr – viel stärker als vor 10 oder 15 Jahren. In meinen Trainings und Seminaren spiegeln mir Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, dass sie sich die von Laloux beschriebene Ganzheit wünschen – auch wenn sie dabei andere Begrifflichkeiten verwenden. Ich erlebe bereits Führungskräfte, die in die Ganzheit gehen, indem sie eigene Unsicherheiten vor ihrer Mitarbeiterschaft zeigen. Den größten Raum zur Entwicklung sehe ich hingegen in der Kultur von Unternehmen. Viele Organisationen zeigen noch keine einheitliche Kultur über die unterschiedlichen Ebenen hinweg. Die Bereitschaft zur Ganzheit ist aus meiner Beobachtung noch nicht in den oberen Managementebenen angekommen. Sie wird allerdings auf den unteren Ebenen ausprobiert – auch in Konzernen.

Taraneh Taheri macht in ihrem Artikel: „Warum sich Teams nicht als Familie bezeichnen sollten“ noch eine weitere Dimension auf. Sie beleuchtet den sprachlichen Teil und fragt: wie sollte sich ein Team nennen, wie selbst über sich sprechen? Denn unsere Sprache beeinflusst unser Handeln im positiven wie im negativen Sinne. Sagt das Team über sich „Wir sind eine Familie“, könnte das ungesunde Erwartungen bei den Mitarbeitenden wecken. Zum Beispiel so etwas wie: „Ich darf nicht kündigen, weil ich meine Familie nicht im Stich lassen darf.“ oder „Es ist ok, wenn ich über meine Grenzen gehe, denn eine Familie steht füreinander ein.“ Es liegt für mich auf der Hand, dass solche Erwartungen durch den im falschen Kontext angewendeten Familienbegriff geradezu gefährlich sind, und zwar gefährlich aus Sicht der beteiligten Individuen als auch aus Organisationssicht. Wenn sich Kolleginnen und Kollegen wie eine Familie fühlen und verhalten, werden Spannungen möglicherweise nicht mehr konstruktiv angesprochen aus Angst, die andere Person damit zu verletzen. Rollenklärungen finden dann nicht mehr statt, das verringert in der Konsequenz die Produktivität des Teams und ist somit schlecht für die Organisation. Der Familienbegriff verschleiert auch die Tatsache, dass ein Arbeitsverhältnis immer ein Tauschgeschäft ist: der Mitarbeitende stellt seine Arbeitsleistung zur Verfügung und wird im Gegenzug von der Organisation entlohnt. Eine Familie hingegen ist bedingungslos!

Auf die Frage „Wie viel Nähe verträgt ein Team?“ antworte ich mit „Es kommt drauf an.“ Es gibt nicht die eine richtige Antwort, die für alle Teams gilt. Es gibt noch nicht einmal die eine richtige Antwort, wenn wir nur ein einziges Team betrachten. Wichtig ist, dass jedes Individuum in seiner Toleranzzone bleibt. Und das kann bedeuten, dass sich 5 Teammitglieder regelmäßig zum After-Work-Bier treffen und ein Teammitglied nie dabei ist. Das ist ok, solange das Team diese Tatsache thematisiert und alle damit einen wertschätzenden Umgang finden. 

Mein Fazit: Der wichtigste Punkt ist, dass jemand (ein Coach, die Führungskraft, ein Teammitglied) dafür sorgt, dass das Team eine sichere Umgebung darstellt, sodass sich jede Person verletzlich zeigen kann, ohne dass das für diese Person negative Auswirkungen hat. Dieser Zustand ist ohne Zweifel schwer zu erreichen, aber es lohnt sich, daran zu arbeiten. 

Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch – Hier können Sie ihn abonnieren


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Andrea SchmittInnovationstrainerinAm Mittelpfad 24a65520 Bad Camberg+49 64 34-905 997+49 175 5196446
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