So sehr wir uns das alle wünschen, es gibt keine Gewissheiten, keine Verlässlichkeit, keine Eindeutigkeit und auch nicht die eine Wahrheit.
In vielen meiner Artikel zuvor habe ich diese Tonalität bereits angerissen:
- im Kontext der Pandemie habe ich beobachtet und formuliert, dass wir uns Sicherheit darüber gewünscht hätten, wie es weiter gehen wird und wann die Pandemie endlich beendet sein wird;
- in meinem Newsletter zum Thema ‚Entscheidungen in einer komplexen Welt‘: berichtete ich davon, wie Unternehmenslenker danach streben, alle Risiken und Unwägbarkeiten durch möglichst gute Vorbereitung der Entscheidungen im Vorhinein auszumerzen und damit die Zukunft zu kontrollieren;
- in meinem Seminar ‚Fluss des Wandels - Veränderungen meistern‘ im April diesen Jahres sind meine Teilnehmer:innen und ich zu der Schlussfolgerung gekommen, dass nur wenige von uns Veränderung als wesentlichen Bestandteil unseres Lebens anerkennen.
Obwohl wir tief in Innern ahnen oder gar wissen, dass es Sicherheit und Bestand nicht gibt, sehnen wir uns danach. Warum ist das so?
Inzwischen glaube ich die Antwort auf diese Frage gefunden zu haben: unser Sehnen und unsere unrealistischen Erwartungen ans Leben gehen auf den Philosophen Aristoteles zurück. In seinem Bestreben die Zusammenhänge der Welt zu erklären, griff er auf eine zweiwertige Logik zurück: wahr versus falsch, gut versus böse, das eine und das andere, usw. Obwohl viele Philosophen und Wissenschaftler nach ihm, seine Lehren in Frage gestellt bzw. widerlegt haben, nimmt die aristotelische Logik noch immer - zumindest in unserem Unterbewusstsein - viel Raum ein.
Beginnen wir mit der Wahrheit: hier brauchen wir nur auf die aktuelle gesellschaftliche Situation zu schauen und es wird offensichtlich, dass sich Menschen ihre Realität bzw. ihre Wahrheit selbst bauen. Es kommt darauf an, wo ich als Mensch hinschaue, was ich sehen will, welche Perspektive ich einnehmen möchte, denn daraus entsteht meine eigene Wahrheit. Sehe ich auch, was funktioniert, was gut läuft oder bereits zum Besseren verändert wurde, oder sehe ich vor allem das, was im Argen liegt, was nicht läuft. Von dieser Betrachtung mag ein Festhalten an unserem demokratischen System sowie unserer Rechtsstaatlichkeit oder eben eine Abwendung von diesem abhängen.
Im Falle von Konflikten und Streit gibt es selten nur die eine Wahrheit. Jede Konfliktpartei hat ihre eigenen Perspektiven. Abhängig davon wie stark die Konfliktparteien in der Lage sind, die Wahrheiten (Perspektiven) des jeweils anderen zu sehen, können Konflikte aufgelöst werden oder eben nicht.
Inzwischen haben Neurowissenschaftler belegt, dass unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen nicht voneinander trennbar sind. Daraus wird ersichtlich, dass unsere individuellen Wahrheiten sich nicht allein aus Zahlen, Daten und Fakten also unserem logischen Denken ableiten, sondern zusätzlich Anteile von Gefühlen und Wahrnehmungen enthalten.
Das wiederum macht deutlich, dass es allerhöchstens individuelle Wahrheiten gibt, aber sicherlich keine allgemeingültigen. Wenn wir an dieser Stelle weiterdenken, dann müssten wir anerkennen, dass Konflikte im menschlichen Zusammenleben also auch im Unternehmensalltag der Normalzustand und nicht der Sonderfall sind.
Wenn es nicht die eine allgemeingültige Wahrheit gibt, dann gibt es auch nicht das richtige allumfassende Wissen für bestimmte Rollen und Funktionen somit auch nicht für die Funktion der Führungskraft. Es gibt also nicht den einen richtigen Führungsstil oder die eine richtige Entscheidung in einer bestimmten Situation. Könnten wir diesen Gedanken anerkennen, wäre es möglich sehr viel Last von den Schultern der Führungskräfte und Unternehmenslenkerinnen zu nehmen.
Leider ist an dieser Stelle unser unterbewusstes aristotelisches Denken sehr stark verankert und wider besseres Wissen erwarten wir Allwissenheit und die Möglichkeit zu guten und richtigen Entscheidungen von Menschen in höheren Positionen wie Führungskräften, Eltern, Menschen mit Erziehungsauftrag, Politikern, Vereinsvorständen, usw.
Es ist menschlich Komplexität zu reduzieren, indem wir Dinge in den Blick nehmen und andere außen vorlassen. Aus meiner Sicht ist das Vorgehen legitim nein sogar notwendig, da wir sonst in komplexen Situationen nicht handlungsfähig wären. Wir alle agieren so - mehrmals am Tag und meist unbewusst. Wichtig ist allerdings zu wissen bzw. anzuerkennen, dass wir bereits dadurch Entscheidungen getroffen haben und es nicht nur diese eine Möglichkeit der Selektion gegeben hat. Hätten wir andere Dinge in den Fokus genommen, wären andere Möglichkeiten und Wahrheiten sichtbar geworden. Wir sind also von Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten umgeben. Meistens sind uns diese nur nicht bewusst.
Fazit: Aus meiner Sicht würden wir stark davon profitieren, wenn wir Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten als Bestandteil unseres Lebens anerkennen würden. Damit erhöhten wir unsere Chancen
- Gründe für Konflikte zu erkennen
- Konflikte zu lösen
- Fehlentscheidungen (auch von Führungskräften) zu tolerieren
- Widersprüche auszuhalten
- handlungsfähig zu bleiben
- neue Möglichkeiten zu sehen
- zu verzeihen
Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint einmal im Monat. Hier können Sie ihn abonnieren