Ups... die Zahlen von Corona-Infizierten steigen wieder exponentiell: in den europäischen Nachbarländern und auch in Deutschland selbst. Die Illusion aus den Monaten Juni, Juli und August, dass der Kelch bereits im Frühjahr an uns vorbeigegangen ist - mit überschaubaren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schäden - wird uns nun als solche bewusst. Erste europäische Länder haben bereits einen zweiten Lockdown verhängt. In diesen Minuten entscheiden deutsche Politiker über die Ausprägung eines zweiten Lockdowns bei uns.
Fragen, wie sie im Frühjahr kurzzeitig aufgekommen sind, zu unserem Zusammenleben, unseren Werten, unserem Wirtschaften, unserer nicht vorhanden Chancengleichheit drängen sich wieder auf. Was wird aus den lokalen kleinen Wirtschaftsbetrieben, wenn es einen zweiten Lockdown gibt? Wird Amazon dann noch reicher, wenn erneut nur Online-Käufe möglich sind? Wie gut können Familien mit kleineren bis mittleren Einkommen noch leben, wenn es weiterhin nur Kurzarbeitergeld gibt und mehr Menschen von Insolvenzen betroffen und damit auf Arbeitslosengeld angewiesen sind?
Die Ungleichheit in der Kapital- und Einkommensverteilung in Deutschland, Europa und den USA wird dann wieder besonders sichtbar. Eine aktuelle Studie, die in der Wochenzeitung ‚DIE ZEIT‘ im Juli veröffentlicht wurde, belegt, dass in Deutschland die ärmsten 50% der Erwachsenen zusammen nur 1,4% des Gesamtvermögens besitzen, während die reichsten 1% (10%) der Erwachsenen 35% (67%) des Gesamtvermögens besitzen. Und dieses Vermögen verbleibt in den Familien, in denen es sich jetzt befindet, und wird dort immer weiter weitervererbt!
Wie erfolgreich beziehungsweise vermögend jeder von uns als Individuum sein wird, hat also sehr viel damit zu tun, in welche Familie er oder sie geboren wird. Diese Erkenntnis ist nun wahrlich nicht neu. Allerdings wäre meines Erachtens jetzt ein guter Zeitpunkt, diese Tatsache offen zu diskutieren und sich als Gesellschaft damit auseinanderzusetzen, wieviel Ungleichheit wir uns leisten wollen. Sebastian Klein räumt in seinem Artikel „Wie wir die Schere schließen und warum wir es tun sollten“ (Neue Narrative #9) mit dem meritokratischen Märchen auf, in dem wir uns und unseren Kindern einreden, dass in unserer Gesellschaft das Leistungsprinzip und somit Chancengleichheit das führende Prinzip ist. Es ist nämlich leider nicht so, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur genug dafür arbeitet.
Nein, ich bin nicht unzufrieden, sondern im Gegenteil außerordentlich dankbar, dass ich in Deutschland geboren wurde. Ich bin privilegiert und ganz sicher auch die meisten meiner Newsletter-Abonnenten: Ich habe ein staatliches Gymnasium besucht, konnte mein Abitur machen und habe danach sogar noch einen universitären Hochschulabschluss - als erste in der Familie – erreicht. Das alles war möglich, ohne dass meine Eltern dafür Schulgeld bezahlen mussten. Mir ist bewusst, dass das trotz der vermeintlichen Chancengleichheit und kostenlosen Bildung in Deutschland nicht jedem gelingt. Denn ich habe keinen Migrationshintergrund, wohnte in einer mittelgroßen Stadt mit einfachem Zugang zu allen Bildungseinrichtungen, meine Eltern fanden Bildung wichtig, sie haben mich ermutigt zu studieren und es war (nicht viel) aber ausreichend Geld da, sodass ich nicht übermäßig viel Jobben musste und mich auf mein Studium konzentrieren konnte. Und danach habe ich weiterhin viel Glück gehabt.
Da geht also noch was - in Richtung Ungleichheit verringern - auch in Deutschland. Natürlich ist hier zuallererst die Politik gefragt, aber wir als Bürger beeinflussen durch unser Handeln und Denken, welche Themen die Politik jetzt angehen muss.
Das in diesem Jahr erschienene Buch ‚Kapital und Ideologie‘ des französischen Ökonoms Thomas Piketty trifft dieses Thema ins Herz. Ich glaube zwar nicht, dass deutsche, europäische und noch weniger US-amerikanische Politiker seinen radikalen Empfehlungen folgen würden, aber interessant zu lesen sind sie allemal. Sein Ansatz ist nicht etwa Kommunismus, sondern eine radikale Umverteilung von Eigentum. Er spricht von einer jährlichen Eigentumssteuer von 0,1% für die Armen und 60% für die Vermögenden. Für Amazon Chef Jeff Bezos würde das jährliche Zahlungen an den Staat von 100 Milliarden US Dollar aus seinem Privatvermögen bedeuten. Einkommenssteuern sind hierin noch nicht berücksichtigt. Die hohen Abgaben der Reichen könnten dann von den Staaten als Einmalzahlungen zur Starthilfe an junge Erwachsenen ausgegeben werden. Diese Tatsache hat der Tagesspiegel als Titel verwendet: „Warum Thomas Piketty jedem Deutschen jetzt 120.000 Euro schenken würde“. Natürlich würde das Prinzip, das Piketty vorschlägt nur funktionieren, wenn alle Staaten ihre Steuergesetze gleichermaßen anpassen würden, sonst würden alle Vermögenden in die verbliebenen Steuerparadiese abwandern.
Und mindestens letzteres ist der Grund, warum keiner ernsthaft glauben kann – mich eingeschlossen –, dass dieses Prinzip in seiner Ganzheit in naher Zukunft in unserem gesellschaftlich und politischen Rahmenwerk verankert werden wird. Aber man könnte die Ideen von Piketty als wilde Ideen klassifizieren, darauf aufbauend weiterdenken und sich inspirieren lassen – ganz im Sinne der Design Thinking Haltung „Auf den Ideen der anderen aufbauen“. Beispiele hierfür sind:
- Die Steuergesetzgebung tatsächlich anpassen, denn sie war in unserer sozialen Marktwirtschaft schon immer ein Mechanismus für die Umverteilung.
- Innerhalb der Bildung für echte Chancengleichheit sorgen und individuelle Förderung ermöglichen, zum Beispiel indem man die Klassengrößen halbiert. Das ist übrigens auch sehr hilfreich in Pandemiezeiten!
- Gehälter angleichen und hierdurch die Unterschiede reduzieren: Was waren nochmal die systemkritischen Berufe, die wir als solche im Frühjahr erkannt hatten? Vielleicht hilft ja die zweite Welle der Pandemie, um uns an diese zu erinnern...
- Beim Wirtschaften das ‚Warum?‘ im Blick haben. Was ist der Sinn und Zweck meines Unternehmens? Wem will ich dienen? Nein, auch dieser Punkt wiederspricht nicht dem Kapitalismus. Der Kommunikationsexperte Simon Sinek beschreibt mit seinem ‚The Golden Circle: Start with the WHY‘, dass eine Organisation, die weiß, was ihr großes Ziel ist und dieses an ihre Kunden authentisch kommuniziert, sehr viel Geld verdienen kann. Sinn stiften und Geld verdienen muss sich also nicht ausschließen... Nur als Unternehmen Geld vermehren als Selbstzweck ist in einer verantwortungsvollen sozialen Marktwirtschaft nicht zweckdienlich.
Fazit: Denn sicher ist, wenn wir unsere westlichen Demokratien schützen wollen, müssen wir umgehend die Ungleichheit kleiner machen. Die jetzige Pandemie hat die Dringlichkeit dafür bereits sichtbar gemacht und wird es in den nächsten Monaten noch mehr tun.
Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch – Hier können Sie ihn abonnieren