‚Ohne Oben‘ geht das?

Wer in klassisch pyramidalen Organisationsformen groß geworden ist, wer Betriebswirtschaftslehre und klassisches Management studiert hat, kann sich nicht vorstellen, dass Unternehmen ohne Führungsrollen wie Teamleiter und Abteilungsleiter auskommen können – ja, dass sie sogar erfolgreich sein können.

Ich sehe ein, dass der Gedanke Führungsebenen abzuschaffen gewagt ist. Noch gewagter ist, es zu tun. So geschehen bei der Alois Heiler GmbH in Waghäusel (Baden-Württemberg). Das Unternehmen fertigt individuelle Glaslösungen für den Innenausbau. Als Stephan Heiler den elterlichen Betrieb 2012 übernimmt, denkt er viel über sein Führungsverständnis nach. Er kann sich nicht vorstellen, seine gesamte Zeit darauf zu verwenden, Mitarbeiter anzuweisen und anschließend zu überprüfen, ob sie seinen Weisungen gefolgt sind. Es stört ihn auch, dass Mitarbeiter Abläufe, die Führungskräfte für sie vorgedacht haben, niemals mit ganzem Herzen ausführen werden. 
2014 ist es dann soweit: Er beginnt mit der Hilfe des Beraters Gebhard Borck sein Unternehmen zu transformieren. Dabei gehen Stephan Heiler und Gebhard Borck stets ergebnisoffen mit der Transformation vor und orientieren sich an verschiedenen Betriebssystemen. Sie entwickeln Konzepte, Methoden und Werkzeuge auf dem Weg der Transformation – überwiegend gemeinsam mit den Mitarbeitern. Der Weg der Transformation erweist sich als steinig. Stephan Heiler beschreibt das sehr ehrlich in seinem Buch „Chef sein? Lieber was bewegen!“.
Fünf seiner damals sieben Führungskräfte verließen den Betrieb - drei gleich in der Anfangsphase der Transformation, zwei weitere kündigten zwei Jahre später. Ab diesem Zeitpunkt gab es tatsächlich keine formale Hierarchie mehr. Mit den Führungskräften verlor die Firma auch deren Fachkompetenz.
Die Mitarbeiter hingegen brauchten ihre Zeit, neue Dinge und Aufgaben zu lernen, um dafür dann auch Verantwortung tragen zu können. Sie mussten lernen, dass sie nicht nur für ihr Tagesgeschäft sondern auch für Strukturverbesserungen und neue Strategien verantwortlich waren, denn es gab ja keine Führungskraft mehr, die ihnen das hätte abnehmen können. Stephan Heiler hat auf dem Weg der Transformation erkannt, dass er Moderatoren, Facilitator und Coaches braucht, um Teamentscheidungen zu begleiten. Er nennt die Rolle, die diese verschiedenen Aspekte bedient, Betriebskatalysatoren. Das Unternehmen durchlebte in den letzten Jahren auch wirtschaftliche Krisen: Gleich zu Beginn der Transformation fiel der Hauptlieferant für Glas wegen Insolvenz aus, frühere Mitarbeiter kopierten das Geschäftsmodell und warben Kunden ab. Doch Stephan Heiler schwört auf die selbstgesteuerte Organisation ohne formale Hierachie. Er ist davon überzeugt, dass diese Organisationsform leistungsfähiger, resilienter und anpassungsfähiger ist als eine klassisch pyramidale Hierarchie. Er geht sogar so weit, dass er sagt, hätte er nicht bereits vor Jahren das Unternehmen transformiert, gäbe es sein Unternehmen heute nicht mehr. 
Mit der Betriebskatalysatorin, Caroline Hess, habe ich gemeinsam eine Weiterbildung besucht. Durch Caroline bin ich überhaupt erst auf das mutige Beispiel der Transformation bei Heiler Glas aufmerksam geworden. Auf meine Frage, wann die Transformation bei Heiler denn abgeschlossen sei, antwortete sie: „Nie. Denn wir passen unsere Organisationsstruktur kontinuierlich dem veränderten Markt an. Wir glauben auch nicht, dass es eine Blaupause einer Struktur gibt, sondern sind eher davon überzeugt, dass jede Organisation ein passendes Betriebssystem für sich selbst kreieren muss – ähnlich so wie wir es getan haben.“ 

Stephan Heiler ist sehr mutig vorgegangen. Er hat einen Weg beschritten, den in Deutschland zu dem Zeitpunkt kaum ein anderes Unternehmen zuvor beschritten hatte. Heute schätze ich einen vergleichbaren Schritt als weniger risikoreich ein, da es inzwischen sowohl zahlreiche erfolgreiche Praxisbeispiele gibt als auch eine Reihe von konzeptionellen Ausarbeitungen, um die Transformation zu kollegialer Führung möglichst ‚verdaubar‘ für alle Beteiligten zu gestalten.

Bezüglich der Praxisbeispiele möchte ich auf die Weleda AG (Naturkosmetik – Deutschland/Schweiz), Buurtzorg (ambulante Krankenpflege – Niederlande), Favi (Metallverarbeitung – Frankreich) und Morning Star (Nahrungsmittelproduktion – USA) verweisen. Der interessierte Leser fragt sich jetzt bestimmt: Funktioniert das nur für kleine Mittelständler oder auch für größere Organisationen? Bei den von mir genannten Beispielfirmen ist alles dabei von einer Mitarbeiterzahl von etwa 60 bis hin zu sieben tausend Angestellten.

Zu den Konzepten, wie kollegiale Führung und Selbstorganisation gelingen kann, gibt es unendlich viel Literatur. Einige habe ich im Anhang angegeben. Herausstellen möchte ich an dieser Stelle die Arbeiten von Claudia Schröder und Bernd Oestereich. Sie haben ihre eigene Firma oose GmbH bereits 2012 auf kollegiale Führung umgestellt und aus dem Gelernten weitere Konzepte entwickelt, die sie über ihre Bücher und Seminare weitergeben. Mein tiefes Verständnis zu diesem Thema habe ich im Wesentlichen durch Claudia und Bernd gewonnen. 

Mein Fazit: Kollegiale Führung ist nicht simpel. Wer sich auf den Weg macht, braucht einen langen Atem. Aber es lohnt sich. Ein kollegial geführtes Unternehmen hat Mitarbeiter, die Verantwortung übernehmen, selbst denken und davon auch im Sinne des Unternehmens Gebrauch machen. Ein kollegial geführtes Unternehmen ist zukunftsfähig!

Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch – Hier können Sie ihn abonnieren


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Andrea SchmittInnovationstrainerinAm Mittelpfad 24a65520 Bad Camberg+49 64 34-905 997+49 175 5196446
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