Es gibt kein Recht auf Wachstum

Unser Leben ist geprägt durch ‚Mehr‘. Ein Mehr an Reisen, ein Mehr an Terminen, ein Mehr an Gehalt, ein Mehr an Umsatz, ein Mehr an...

Schon in der zweiten Jahreshälfte 2019 hatte ich den Eindruck, es könnte besser sein, von allem mal wieder etwas Weniger zu tun oder zu haben. Mein Gefühl war, dass andere das möglicherweise auch so sehen könnten; ja, dass es sogar einen gesellschaftlichen Trend hin zu Klimabewusstsein, Ressourcenschonung und Augenmaß gibt.

Dann kam im März 2020 das Coronavirus mit einem großen STOP-Schild daher und wir konnten es tatsächlich mal ausprobieren, wie das so ist, von allem etwas Weniger zu tun oder zu haben.

Jetzt drei Monate später kann ich zwei Lager erkennen. Das eine Lager sind die Menschen und Unternehmen, die den Not-STOP Zustand so schnell als möglich wieder verlassen und dort ansetzen wollen, wo wir im März aufgehört haben. Das andere Lager sind diejenigen, die Gefallen an dem ‚Weniger‘ gefunden haben und davon etwas erhalten möchten – sei es im Privaten oder im Geschäftlichen.

Ich denke, das Thema Reisen wird noch eine ganze Weile verlangsamt, reduziert und mit kleinerem Radius geschehen. Für unsere Umwelt hat das sicherlich nur positive Auswirkungen. Für den Wirtschaftszweig Tourismus hingegen führt unsere Zurückhaltung zu Umsatzeinbrüchen, weniger Arbeitsplätzen und möglichen Insolvenzen. Die Frage hier ist: Kann es langfristig sogar zur Abkehr vom Massentourismus führen? Und wie sieht dann das Wertversprechen des ‚neuen‘ Tourismus aus?

Noch deutlicher wirkt sich unser Weniger an Geschäftsreisen auf die Luftfahrtbranche aus. Aufgrund von ausgefallenen Firmenevents, Messen und persönlichen Meetings blieben und bleiben die meisten Flieger am Boden. Wir konnten Homeoffice und Videokonferenzen einem Stresstest unterziehen. Meine eigene Erfahrung hat gezeigt, das alles hat sehr gut funktioniert, zumindest mal viel besser als erwartet. Wollen wir nun wirklich zurück zu dem Zustand im März und auf Homeoffice und die wirklich gut funktionierenden Videokonferenzen verzichten? Wahrscheinlich nein. Viele von uns werden ein paar der guten Praktiken, die Zeit, Geld und Energie sparen, auch in unserem Alltag nach Corona beibehalten wollen.

Vielleicht hatten sich diese Änderungen unserer Bedürfnisse und unseres Verhaltens ja tatsächlich schon in den letzten Monaten vor der Krise angekündigt. Das Coronavirus jedenfalls ist verantwortlich dafür, dass sich die lang angekündigten Veränderungen in den unterschiedlichsten Branchen nun nicht mehr aufhalten beziehungsweise übersehen lassen. Das Virus wirkt als Brandbeschleuniger für angeschlagene Industriezweige. In dem Essay der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel ‚So wie früher wird es nicht mehr werden‘ (siehe Link unten) gibt Karl-Heinz Büschemann Beispiele, welche Industrien sich nach der Krise nicht mehr ganz erholen werden.

Der Wandel in der Automobilindustrie steht schon lange an, wurde aber vor allem von den großen deutschen Automobilherstellern nicht wirklich aktiv vorangetrieben. Schon vor der Corona Krise gab es klare Zeichen, dass ein ‚weiter so wie bisher‘ nicht mehr lange durchtragen würde. Der Diesel-Skandal von VW hätte die Branche aufrütteln können. Die Konkurrenz durch das Unternehmen Tesla, das ausschließlich auf Elektromobilität und starke Software Architektur setzt und gerade ein Werk in Brandenburg errichtet, hätte Anlass für ein früheres Aufwachen der Branche sein können. Die offensichtliche Notwendigkeit für mehr Klimaschutz angemahnt von allen Wissenschaftlern und eine Straßeninfrastruktur in deutschen Städten und Autobahnen, die kurz vor einem Kollaps steht, hätte Veränderungsanstoß genug sein können. Es hat wohl die Corona Krise gebraucht, um noch deutlicher aufzuzeigen, dass die europäischen Automobilhersteller massive Überkapazitäten für Verbrenner haben. Es werden viele der existierenden Arbeitsplätze wegfallen. Im Gegenzug werden beim Thema Mobilität neue Fähigkeiten und Fertigkeiten gebraucht. Die Frage ist nun, wer diese jungen IT begeisterten Leute akquirieren kann. Werden es die altbekannten Namen wie VW, BMW oder Mercedes sein oder andere?

Das Virus hat sichtbar gemacht, dass zurzeit viele Branchen vor einem Strukturwandel stehen. Es gibt kein Recht auf Wachstum! Dafür verantwortlich sind veränderte gesellschaftliche sowie soziale Trends, neu erschlossene technologische Fähigkeiten, begrenzte Ressourcen, die kein unbegrenztes Wachstum zulassen, sowie neu entstandene Bedürfnisse der Konsumenten. Für die betroffenen Branchen bedeutet das: keine zweistelligen Umsatzsteigerungen mehr und das Ende ihres über Jahre beziehungsweise Jahrzehnte gut funktionierenden Geschäftsmodells.

‚Change is constant‘, deshalb ist es für Unternehmen essenziell, noch in Zeiten zweistelliger Wachstumszahlen und Vollauslastung der Produktionsstätten den Blick vor sich bereits ankündigenden Veränderungen nicht zu verschließen. Veränderung begrüßen und als Anstoß nehmen, um neue Geschäftsmodelle rechtzeitig zu entwerfen und in vielen kleinen Schritte möglichst risikoarm auszuprobieren, das ist die Königsdisziplin.

Häufige Gründe, warum das nicht geschieht, sind unter anderem die Angst davor, sich die eigene Konkurrenz ins Haus zu holen beziehungsweise eigene Produkte selbst zu kannibalisieren. In meiner Praxis als Innovationscoach habe ich in den Unternehmen sehr häufig gute Ideen gesehen, aber diese schafften es nicht einmal in die erste Erprobungsphase, da sie den aktuellen Branchenregeln nicht genügten. Und genau da liegt die Chance für Neues oder gar Disruption. Die Begrenzung findet also schon in den Köpfen der Lenker und Mitarbeiter statt und nicht erst in den Strukturen und Prozessen des Unternehmens. Alexander Osterwalder analysiert in seinem neuen Buch ‚Die unbesiegbare Firma – The Invincible Company‘, welches die kritischsten Schritte hin zu einem innovativen und zukunftssicheren Unternehmen sind. Eine kurze Zusammenfassung werde ich in meinem nächsten Newsletter in zwei Wochen vorstellen.

Mein Fazit: Es werden nicht alle Unternehmen und Branchen an den Vor-Corona Stand anknüpfen können, da Konsumenten wie Du und ich in einigen Lebensbereichen bei dem ‚Weniger‘ verweilen möchten.

Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter „Innovation am Mittwoch“. Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch – Hier können Sie ihn abonnieren


Lese- und Hörtipps:


Andrea SchmittInnovationstrainerinAm Mittelpfad 24a65520 Bad Camberg+49 64 34-905 997+49 175 5196446
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